Wunder von Rom

Michael Hesemann erlebte die Seligsprechung Johannes Pauls II. 

Zwei Tage vor der Seligsprechung Papst Johannes Pauls II. sieht alles danach aus, als würde eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Ewigen Stadt zu einem Fiasko werden. Immer lauter werden die Stimmen, die dem verstorbenen Papst die Seligkeit absprechen, immer unsicherer scheint es, wie viele Menschen überhaupt kommen werden – die Schätzungen schwanken zwischen 500.000 und 2.5 Millionen. Und die Meteorologen sind sich zu allem Übel noch ziemlich sicher, dass es in Strömen regnen wird.

„Da haben die Herren im Vatikan mal wieder einen richtigen Bock geschossen“, begrüßt mich ein deutscher Vatikankorrespondent beim Mittagessen in der „La Vittoria“, dem Stammlokal vieler „Vaticanisti“, und legt los: „Es gibt keine Karten! Niemand weiß, wie viele Menschen kommen werden! Es wird ein Chaos geben, denn jeder will jetzt auf den Petersplatz“. Ich stimme ihm zu, dass man wohl ziemlich naiv gewesen ist. „Kardinal B. hat bereits die Flucht ergriffen. Der ganze Seligsprechungsprozess ist doch eine Farce. Man hat nicht einmal den Kardinalsstaatssekretär Johannes Pauls II. vernommen, Kardinal Sodano. Alles sollte nur schnell, schnell gehen!“ Sodano war es gewesen, der als Erster forderte, dem Wojtyla-Papst den Titel „der Große“ zu verleihen. Deshalb kann ich mir kaum denken, dass seine Aussage das Ergebnis des Prozesses zum Negativen verändert hätte.

Auf dem Petersplatz laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. An den Kolonnaden Berninis wurden Plakate mit Bildern aus den 26 Jahren seines Pontfikats angebracht, zudem ein überdimensionales Transparent mit seinem Bild und, in mannshohen Buchstaben, das Motto seines Pontifikats: „Öffnet, ja reißt auf die Tore für Christus!“ Die Vorfreude der Pilger, die gerade eingetroffen sind, liegt in der Luft. Nur der Himmel lässt Böses erahnen, so grau und verdüstert erscheint er in diesem Moment. Ich statte den vatikanischen Grotten einen letzten Besuch ab. Dort stehen noch immer Tausende Schlange, um noch einmal die weiße Marmorplatte zu küssen oder zu berühren, unter der Johannes Paul II. seit 2005 begraben liegt und die jetzt mit Blumen überhäuft ist. Noch am selben Tag soll die Gruft der Päpste für die Pilger geschlossen, das Grab geöffnet werden. In der Basilika selbst ist man damit beschäftigt, die Sebastianuskapelle gleich neben der Pietá des Michelangelo umzugestalten; hier soll der künftige Selige seine endgültig letzte Ruhestätte finden.

Am Samstag nachmittag bin ich mit Pater Peter Gumpel verabredet, einem heute 87jährigen Jesuiten, der selbst als Untersuchungsrichter („Relator“) den Seligsprechungsprozess von Papst Pius XII. geleitet hat. „Wissen Sie, weshalb alles so schnell ging?“, klärt er mich auf. Ich verneine. „Papst Benedikt selbst wollte seinen Vorgänger so schnell wie möglich selig sprechen. Er hatte sogar die Idee, das sofort zu tun, ohne einen Prozess, doch davon rieten ihm die Kardinäle dringend ab. So bat er die Heiligsprechungskongregation darum, so effizient wie möglich zu arbeiten. Und das ist auch verständlich, denn er hat den verstorbenen Papst so gut gekannt wie nur wenige andere. Er traf ihn ja mindestens einmal die Woche, oft noch häufiger. Während in anderen Fällen der Papst noch von der Heiligkeit eines Kandidaten überzeugt werden muss, stand hier für ihn das Urteil längst fest. Der Prozess war nur noch reine Formsache.“

Schon am Freitag nachmittag wird mir klar, dass die Meteorologen mit ihrer Vorhersage Recht hatten. Es regnet in Strömen. Unzählige Pakistani, die bei solchem Wetter in Rom wie Pilze aus dem Boden schießen, um verzweifelten Touristen für fünf Euro einen Billigschirm anzubieten, machen das Geschäft ihres Lebens. Wo man hinschaut, blickt man in verzweifelte Gesichter. Es ist unübersehbar, dass sich die Stadt allmählich füllt. Pünktlich um 17.00 Uhr fliehen die Römer aus ihrer Stadt. Der Bürgermeister hat dazu aufgerufen, dass alle Bürger, die sich nicht für die Seligsprechung interessieren, das Wochenende besser in den Bergen oder am Meer verbringen, um dem zu erwartenden Chaos zu entgehen. Zum letzten Mal hat man ähnlich auf den Ansturm der Goten reagiert. So kommt es, dass es in Rom an diesem Wochenende mehr Polen als Einheimische gibt.

Es regnet noch immer am Samstag morgen, als mich eine deutsche TV-Journalistin interviewt. Auch sie stellt die vielleicht häufigste Frage, die in den letzten Tagen durch Rom gegeistert ist: „Und was ist mit Pater Marcial Maciel, dem Gründer der Legionäre Christi, der ein Doppelleben geführt hat, dem nicht nur gleich mehrere uneheliche Kinder mit mehreren Frauen, sondern auch der sexuelle Missbrauch von Seminaristen, Minderjährigen, ja sogar der eigenen Kinder nachgewiesen wurde? Wie konnten er und seine Bewegung unter Johannes Paul II. so an Einfluss gewinnen?“ „Auch ein Seliger ist nicht unfehlbar“, antworte ich, „auch er ist nicht davor geschützt, von einem Menschen arglistig getäuscht zu werden. Wie oft kommt es vor, dass eine erstaunte Ehefrau etwas über ihren Mann erfährt, was ihr zunächst unvorstellbar erscheint? Wie viele unbescholtene Menschen fallen auf Betrüger und Heiratsschwindler herein? Pater Maciel war so etwas wie ein katholischer Dr. Jekyll und Mr. Hyde – nach außen hin der begnadete Ordensgründer, der im einst antiklerikalen Mexiko den Boden für eine Neuevangelisierung bereitete und die Papstbesuche organisierte, doch hinter der Fassade ein kranker und abgrundtief schlechter Mensch. Doch gleich als die Vorwürfe Rom erreichten, 1997/98, ordnete Johannes Paul II. eine Untersuchung an, die sich nur deshalb hinzog, weil Maciel alles abstritt und es zunächst keine Beweise gab. Erst 2004 lagen 20 Zeugenberichte vor. Da aber war der Papst schon schwer krank – und so oblag es seinem Nachfolger, Benedikt XVI., die Konsequenzen zu ziehen, was dann auch gleich zu den ersten Handlungen seines Pontifikats gehörte.“

Wieder beim Mittagessen sitze ich mit einem anderen Kritiker, einem deutschstämmigen Pater aus Rom zusammen. „Er war ja ein Mann von tiefer Frömmigkeit, aber sein Pontifikat war eine Katastrophe“, beginnt er das Gespräch zum Thema des Tages. Ich schlucke, höre aber weiter zu. „Er hatte die Kurie nicht im Griff, obwohl er schon 400 Polen nach Rom holte, die dann als die ‚polnische Mafia‘ geächtet wurden. Er ließ die Zügel viel zu locker. Ständig wurde eine neue Reise vorbereitet, dann war er weg, dann musste er sich von der Reise erholen und wieder blieb die Arbeit liegen...“ Ich hatte von anderer Seite bereits ähnliches gehört.

Kaum nähere ich mich wieder dem Petersplatz, wird offensichtlich, was Rom in den nächsten Stunden bevorsteht. Überall drängeln sich Menschen, viele mit Rucksäcken und Isomatten ausgerüstet, als würden sie jetzt schon einen Schlafplatz suchen. Doch wenn dies ihr Anliegen ist, dann werden sie enttäuscht. Das Gebiet um den Vatikan, die ganze Via della Conciliazione, soll in der Nacht von Menschen geräumt und bis zum nächsten Morgen abgesperrt werden. Ich nutze die Zeit, um eine Ausstellung zu besuchen, die Papst Benedikt XVI. selbst als Tribut an seinen geliebten Vorgänger in Auftrag gegeben hat. Sie enthält Dutzende Erinnerungsstücke, die von den Stationen seines bewegten Lebensweges zeugen: Das Familienalbum seiner Eltern, Fotos vom jungen „Lolek“, sein Kommunionbild, die Holzschuhe und die Sträflingskleidung, die er als Zwangsarbeiter für die Deutschen tragen musste, das Skapulier, das ihn sein Leben lang begleitete, aber auch sein Kajak und seine Skier, die ihm einst als junger Priester und noch als Bischof von Krakau so viel Freude bereiteten, seine Ernennungsurkunden zum Weihbischof, Erzbischof und Kardinal samt seiner Amtskleidung, die Kniebank und das beeindruckende Christusbild, vor dem er damals in Krakau betete. Bild- und Tondokumente wecken Erinnerungen an seine ersten Worte als Papst, an das Attentat von 1981, an seine Reisen zu den Völkern, an seinen Abschied im Jahre 2005. Am Rande des Austellungsraums steht, von vielen unbeachtet, die Rollbühne, auf der er in seinen letzten Jahren den Petersdom betrat und über deren Haltegriff ich wehmütig streiche. So viele Erinnerungen, so viele Gefühle übermannen mich und lassen die Zweifel verfliegen. „Du bist Petrus“, so lautete der Hymnus bei seiner Amtseinführung, er war der 264. Nachfolger jenes Fischers aus Galiläa, dessen Auftrag, von Jesus selbst erteilt, es war, zum Menschenfischer zu werden. Von administrativen Aufgaben ist in den Evangelien nichts zu lesen. Doch wer war ein besserer und größerer Menschenfischer als dieser Mann aus Krakau, wer hat mehr Menschen in aller Welt das Evangelium verkündet und sie für Jesus begeistert? Und wer hat, zu einem Zeitpunkt, als Kirche so „out“ erschien wie Volksmusik und Blaskapellen, die Jugend zurück zum Glauben geholt, mit Millionen von ihnen die Weltjugendtage gefeiert? Gewiss, es gab bessere Bürokraten als ihn auf dem Thron Petri, etwa den klugen aber unverstandenen Paul VI., der als „Pillenpapst“ verhöhnt wurde und in den Strudel der 1968er geriet. Eine ganze Generation ging damals der Kirche verloren, weil es ihr einfach nicht gelungen war, die Sprache ihrer Zeit zu sprechen. Das änderte sich durch Johannes Paul II., den großen Kommunikator, dieses Genie der Inszenierung, das zum ersten globalen Missionar, zum Botschafter der Hoffnung für ein neues Jahrtausend wurde. Ihn konnten keine Mauern halten, auch die nicht des Vatikans. Er liebte die Menschen und die Menschen liebten ihn, und so teilte er mit ihnen die Liebe Christi, die ihn so spürbar ganz und gar erfüllt hatte.

Es nieselt noch immer, als ich Samstagabends ins Taxi steige und mich zum Circus Maximus bringen lasse, der einstigen Rennbahn der Cäsaren. Dort soll die feierliche Vigil stattfinden, mit der die Feierlichkeiten zur Seligsprechung eingeleitet werden. Ich bin spät dran. Als ich aussteige und das nasse Grün überquere, begrüßen mich vertraute Klänge. Die versammelte Pilgerschar, um die 300.000 Menschen, haben gerade die Hymne der Weltjugendtage, „Jesus Christ, you are my life“, angestimmt und ich bin überwältigt. Das Bild, das sich mir bietet, treibt mir Freudentränen in die Augen. Sie sind also alle wieder gekommen, um ihn zu feiern, ihn, dem sie so viel zu verdanken haben! Die meisten von ihnen sind jüngere Menschen, Mitglieder der „Generation JP2“, der Generation der Weltjugendtage. „Apage Satanas!“, würde ich all den Kritikern und Zweiflern in diesem Augenblick am liebsten entgegen schleudern, „weiche von mir, Satan!“ Denn warum das alles? Warum sind damals bei seinem Tod spontan über vier Millionen Menschen nach Rom gereist, haben alle erdenklichen Strapazen auf sich genommen, bis zu 17 Stunden geduldig in der längsten Schlange der Welt angestanden, um einige Sekunden lang an seinem aufgebahrten, toten Körper vorbei zu defilieren? Weshalb haben sie auch jetzt wieder all die Hiobsbotschaften von horrenden Hotelpreisen, einer überfüllten Stadt und miserablem Wetter ignoriert, um dabei zu sein, wenn seine Seligsprechung gefeiert wird? Die Antwort ist ganz einfach: Weil jeder, der heute Abend in Rom ist, ihm unendlich viel zu verdanken hat. Weil er das Leben jedes Einzelnen dieser Millionen einst grundlegend veränderte. Ich bin da keine Ausnahme, auch ich kann sagen, dass dieser Morgen in seiner Privatkapelle der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben war. Anderthalb Jahre später saß ich vor ihm auf der Heiligjahrfeier der Journalisten und war bereit, mich und das, was ich kann, fortan ganz in den Dienst seines großen Projektes der Neuevangelisierung Europas zu stellen. So betete ich zu Gott, er möge den Weg dazu frei machen. Ich war damals Chefredakteur eines Magazins. Sechs Wochen später erfuhr ich von einem Kurswechsel der Verlegerin, angesichts dessen es mir zwingend erschien, sofort zu kündigen. Ich habe diesen Ausstieg nie bereut.


Bei der nächtlichen Vigil im Circus Maximus

Und jetzt bin ich wieder in Rom, mit all diesen Menschen, und er lächelt von einer großen Bildplane auf mich herab. Links davon, auf der Bühne, sitzt eine Gruppe von Kardinälen, darunter Stanislaus Kardinal Dziwisz, der heutige Erzbischof von Krakau, der ihm vierzig Jahre lang als Sekretär treu gedient hat. Eine schrecklich laute Moderatorin in einer ziemlich unpassenden weißen Abendrobe präsentiert die Vigil wie eine Show im Berlusconi-Fernsehen. Das Schmunzeln auf dem Gesicht von Kardinal Koch ist unübersehbar, während Dziwisz einen eher betroffenen Eindruck macht. Doch weder die wenig feierliche Aufdringlichkeit der TV-Amazone noch die überdimensionalen gelben Luftballon-Hände, die das römische Pilgerwerk (!) verteilt hat, lassen die Stimmung in Richtung Popkonzert kippen. Spätestens als die 300.000 Versammelten ihre Kerzen anzünden und den Circus Maximus in ein Lichtermeer verwandeln, weiß man wieder, weshalb man gekommen ist. Als Erster spricht Joaquin Navarro-Valls, der einstige Pressesprecher des Wojtyla-Papstes und drückt aus, was wir alle empfinden: „Danke, Johannes Paul II., für das Meisterwerk, das du mit Gottes Hilfe in deinem Leben vollbracht hast.“ Danach wird Schwester Marie Simon-Pierre Normand interviewt, erzählt von ihrer wunderbaren Heilung, die den Weg zur Seligsprechung endgültig frei machte. Das Gesicht der stillen, fast schüchternen Ordensfrau wirkt zufrieden, ruhig hält die einst an Parkinson Erkrankte das Mikrofon in der Hand. Es war in der Nacht zum 3. Juni 2005, als sie im Gebet Johannes Paul II. um Fürsprache bat, verzweifelt über das Fortschreiten der unheilbaren Krankheit, resigniert, weil es ihr täglich schlechter ging. Ihm verdanke sie ihr neues Leben, verkündet sie den Hunderttausenden, jetzt sei sie vollständig geheilt. Tosender Applaus, als sie die Bühne verlässt. „Johannes Paul II. kehrt heute zu uns zurück“, verkündet schließlich Kardinal Dziwisz mit kräftiger, klarer Stimme. Er werde jetzt selig gesprochen, weil er schon zu Lebzeiten ein Heiliger war. Nur zweimal habe er ihn wütend erlebt in den vierzig Jahren an seiner Seite: Bei seiner Rede in Agrigent auf Sizilien, als er die Mafia anprangerte, und 2003, als er vor dem fatalen Irak-Krieg warnte.


Sr. Marie Simon-Pierre Normand, Kardinal Stanislaus Dziwisz bei der Vigilfeier

Zum nachfolgenden Gebet des lichtreichen Rosenkranzes, den Johannes Paul II. eingeführt hat, schaltet man von Rom aus in die ganze Welt: In die Marienbasiliken von Fatima und Guadalupe /Mexiko, zu den Heiligtümern Notre Dame du Libanon in Harissa und nach Kawekamo-Bugando in Tansania, aber auch in das vom Papst selbst auf seiner letzten Polenreise 2002 eingeweihte „Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit“ in Lagniewniki bei Krakau. Denn Karol Wojtyla war nicht nur der Papst Mariens, der das „Totus tuus“ auf sein Wappen schrieb, sondern auch der Botschafter der Göttlichen Barmherzigkeit, der in der Nacht vor dem von ihm eingeführten Barmherzigkeitsfest, dem Weißen Sonntag, um 21.37 Uhr in das Haus des himmlischen Vaters eintrat.

Eine Schaltung in den Vatikan, zu Papst Benedikt XVI., der den Pilgern den Apostolischen Segen erteilte, beendet die stimmungsvolle Vigil. Jetzt strömen die Menschen in die Stadt, zu den Kirchen, die zur Eucharistischen Andacht geladen haben (inklusive einer italienischen Version von „Nightfever“) oder gleich auf die vatikanische Tiberseite, über die Brücken, die bereits für den Autoverkehr gesperrt ist. Der Nieselregen hat zu Beginn der Vigil bereits aufgehört und so schlagen viele, trotz unschöner Kälte, irgendwo nahe der Zugänge ihr Nachtlager auf. Mit viel Schlaf ist ohnehin nicht zu rechnen, denn um 5.00 Uhr früh soll der Hauptzugang zum Petersplatz geöffnet werden.

Auch ich schlafe nur zwei Stunden, denn auch wir Journalisten sollen uns vor 5.30 Uhr an unserem Treffpunkt vor dem „Tor des Heiligen Offiziums“ einfinden, um ungehindert unsere Tribüne zu erreichen, das Dach des „Braccio di Carlomagno“ über dem der Basilikafassade vorgelagerten Teil des Petersplatzes. Als ich sie endlich über eine scheinbar endlose, schmale Wendeltreppe betrete, begrüßt mich Benedikt Steinschulte vom Päpstlichen Medienrat im Regenmantel. „Na, so wenig Gottvertrauen?“, frotzel ich ihn an. „Die Meteorologen haben Regen vorhergesagt“, bestätigt er mir. Ich schaue hinauf in den noch dunklen, dabei wolkenverhangenen Himmel, der nichts Gutes verheißt. Unten, auf dem Platz, hat man Vorsorge getroffen und eine Reihe hübscher Zelte für die Kardinäle und Staatsgäste errichtet, die irgendwie an Puppenhäuser erinnern. Zwei weitere dieser „Puppenhäuser“ stehen bei uns auf der Pressetribüne. Noch kauern in ihnen frierende Helfer, in gelbe Regenhäute gehüllt, doch später sollen sie wohl den teuren TV-Kameras der hier platzierten Fernsehcrews Unterschlupf bieten. „Ich glaube nicht, dass es Regen gibt“, erkläre ich, um schnell einen bemitleidenden Blick zu ernten. „Als ich 2000 mit dem Papst in Galiläa war, auf dem Berg der Seligpreisungen, sah es ähnlich aus. Die ganze Nacht über hatte es geregnet, am nächsten Morgen wateten wir durch den Schlamm, während über uns schwere, dunkle Regenwolken hingen. Doch kaum landete Johannes Paul II. in seinem Helikopter, hellte es auf. Als er im Papamobil auf das Gelände fuhr, kam die Sonne durch. Ich gehe jede Wette ein, dass es heute ähnlich sein wird.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, meint Steinschulte. „Und, was ist mit den Staatsgästen? Wie viele sind es nun endgültig?“, will ich von ihm wissen. Jetzt ist „Benedikt XVII.“, wie wir Journalisten ihn nennen, in seinem Element. „87 offizielle Delegationen haben sich angesagt, darunter 16 Staatsoberhäupter inklusive der Präsidenten von Polen, Italien und Mexiko, drei Vizepräsidenten, sieben Premierminister, fünf Parlamentspräsidenten, fünf Königshäuser, elf Außenminister – und wissen Sie, wen Deutschland schickt? Den Innenminister, so als sei es die Seligsprechung einer Nonne aus dem Allgäu, die natürlich auf Diözesanebene gefeiert wird, und nicht die des Papstes, dem Deutschland letztendlich seine Wiedervereinigung verdankt!“ „Die sollten sich was schämen!“, erwidere ich, „da wundert sich Frau Merkel, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verschlechtern, versäumt es aber, dem größten Sohn unseres Nachbarlandes ihren Tribut zu zollen. Diplomatisch wirklich höchst unklug!“ „Ja, und der doch so katholische Bundespräsident besucht stattdessen Mexiko – und wundert sich wohl, dass sein Amtskollege in Rom ist...“

Ich suche mir einen guten Platz und schaue mich um. Gegenüber, im Apostolischen Palast, im Fenster des Papstes, brennt eine Kerze. An der Fassade des Petersdomes hängt der bemalte Wandteppich mit dem noch verhüllten Bild des neuen Seligen. Unten, auf dem noch leeren Petersplatz, laufen die letzten Vorbereitungen. Dann, in der Morgendämmerung, öffnen sich langsam die Schleusen, treffen die ersten Pilger ein. Viele von ihnen haben ihre Landesflaggen dabei, die meisten davon in den Farben Polens, weiß-rot. Wieder werfe ich einen kritischen Blick gen Himmel, der einfach nicht aufhellen will. Und trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf.

Vor dem Altar steht ein großes Jesus-Bild, gemalt nach den Angaben der polnischen Mystikerin Sr. Faustyna, deren Kloster der junge Karol Wojtyla einst so gerne aufsuchte. Pünktlich um 9.00 Uhr verliest ein Sprecher das von ihr verbreitete Gebet des „Barmherzigkeitsrosenkranzes“. Die Journalistentribüne füllt sich mit den Nachzüglern, auf dem Platz drängen sich die Menschenmassen, die über die Via della Conciliazione eingelassen wurden. Ein Spruchband mit der Aufschrift „Deo Gratias – Gott sei Dank“ hängt an zehn roten Luftballons über dem Platz. Allmählich treffen auch die Bischöfe und Staatsoberhäupter ein.

Pünktlich um 10.00 Uhr besteigt Papst Benedikt XVI. unter dem Jubel der Menge das Papamobil, das ihn vor dem Bronzetor, dem Zugang zum Apostolischen Palast, erwartet. Während die Kardinäle in ihren golddurchwebten Messgewändern in feierlicher Prozession den Petersplatz betreten, wird der Papst, durch die winkenden Menschenmassen gefahren. Zu meiner Beruhigung stelle ich fest, dass sich das Wetter aufhellt; ich bin jetzt sicher, dass es zumindest trocken bleibt an diesem Morgen.


Das enthüllte Papstbild; „Gott sei Dank“-Banner über dem Petersplatz

Am Altar angekommen, verlässt der Benedikt XVI. das Papamobil, umkreist ihn, das Weihrauchfass schwenkend, und nimmt Platz auf seinem Thron, den ein breites, rotes Dach überspannt. Er trägt Messgewänder, die einst für Johannes Paul II. gefertigt worden waren und die dieser in den letzten Jahren seines Pontifikats häufig trug. Zunächst verliest Kardinal Agostino Vallini, Generalvikar des Papstes für die Diözese Rom, die Vita des neuen Seligen, bevor der Papst die Seligsprechungsformel verliest. Dabei benutzt er das „wir“, nicht als pluralis maiestatis vergangener Zeiten, sondern um auszudrücken, dass er für die Weltkirche spricht, die in diesem Augenblick hier auf dem Petersplatz vereint ist: „Nachdem wir die Meinung der Kongregation für die Heiligsprechungen angehört haben, erlauben wir uns nun mit unserer apostolischen Autorität, dass der verehrungswürdige Diener Gottes, Papst Johannes Paul II., von jetzt an selig genannt werden darf und dass sein Gedenktag an den Orten und nach den Weisen, die das Kirchenrecht festgesetzt hat, jährlich am 22. Oktober gefeiert wird. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ In diesem Moment, zu den Klängen des dreifachen „Amen“ der Versammelten, hebt sich der Vorhang vor dem Wandteppich an der Fassade der Basilika und gibt das Bild des seligen Papstes preis. Es ist ein Foto des Polen Grzegorz Galazka, 1995 aufgenommen, das einen gütig-verschmitzt lächelnden Karol Wojtyla zeigt. Die begeisterte Menge jubelt und applaudiert, schwenkt ihre Fahnen und Transparente, manche umarmen sich vor Freude. Es ist vollbracht, er ist jetzt wirklich selig gesprochen – ein Moment, den mitzuerleben uns für alle Strapazen entschädigte!


Die jubelnde Menge nach dem Akt der Seligsprechung

In diesem Augenblick wirkt der neue Selige sein erstes Wunder. Just in dem Augenblick, als Schwester Marie Simon-Pierre und Schwester Tobiana, die Älteste der polnischen Schwestern, die dem Papst als Haushälterinnen dienten, das Silberreliquiar mit der Blutreliquie des verstorbenen Papstes zum Papstthron tragen, wo es Benedikt XVI. küsst, bricht die Sonne durch. „Oh Du Kleingläubiger!“, frotzel ich Benedikt Steinschulte an, „hab‘ ich es nicht gesagt? Der Selige Johannes Paul II. hätte mich sehr enttäuscht, wenn es an diesem Tag geregnet hätte. Und er hat mich noch nie enttäuscht!“


Die Blutreliquie wird Papst Benedikt präsentiert – und wirkt in diesem Augenblick ihr erstes Wunder

Im strahlenden Sonnenschein hält sein Nachfolger eine seiner schönsten Predigten. Sie beginnt mit der Erinnerung an die Begräbnisfeier vor sechs Jahren: „Schon an jenem Tag spürten wir den Duft seiner Heiligkeit ausströmen, und das Volk Gottes hat auf viele Weisen seine Verehrung für ihn zum Ausdruck gebracht. Daher wollte ich, dass sein Seligsprechungsprozess unter entsprechender Beachtung der Vorschriften der Kirche ziemlich rasch vorangehen konnte. Und heute ist der erwartete Tag gekommen; er ist schnell gekommen, weil es dem Herrn so gefallen hat: Johannes Paul II. ist selig!“ Sie endet mit dem persönlichen Zeugnis Benedikts XVI.: „Mein Dienst wurde durch seine spirituelle Tiefe und den Reichtum seiner Intuition getragen. Sein beispielhaftes Beten hat mich immer wieder berührt und erbaut: Er tauchte ein in die Begegnung mit Gott, auch inmitten der vielfältigen Obliegenheiten seines Dienstes. Und dann sein Zeugnis im Leiden. Der Herr hat ihm allmählich alles genommen, aber er ist stets der ‚Fels‘ geblieben, wie Christus es gewollt hat... Selig bist du, geliebter Papst Johannes Paul II., weil du geglaubt hast! Wir bitten dich, stärk vom Himmel her weiter den Glauben des Volkes Gottes.“

So laut jetzt der Jubel tobt, so andächtig und mucksmäuschenstill wird es bei der Meßfeier. Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben, alles verläuft von selbst wie nach einem unsichtbaren Plan. Ja, es ist eine Freude, katholisch zu sein, an diesem Tag noch mehr als je zuvor.


Die Wolkenmauer rund um Rom am Ende der Seligsprechungsfeier

Bevor ich die Journalistentribüne verlasse, werfe ich noch einen letzten Blick auf das Wetter. Am Horizont, über den Bergen, türmen sich die Wolkenberge, wie von unsichtbarer Hand aufgehalten. Einen ganzen Tag lang werden sie sich nicht über die Ewige Stadt wagen, während es in halb Italien regnet. Erst am Montagnachmittag, nachdem Kardinalstaatssekretär Bertone die Dankesmesse für die Seligsprechung gefeiert hat und sich die meisten Pilger längst auf dem Rückweg befinden, kehrt der Regen zurück.

Im Pressebüro erfahre ich die offiziellen Zahlen: Anderthalb Millionen haben an der Seligsprechungsfeier teilgenommen, die somit mit Abstand die größte in der Kirchengeschichte war. Selbst zur Seligsprechung des italienischen Nationalheiligen Pater Pio im Mai 1999 waren „nur“ 300.000 gekommen. Der „Marathonmann Gottes“ hat wieder einmal alle Rekorde gebrochen.

Vom Nachmittag an bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages haben die Pilger noch einmal die Gelegenheit, sich ganz persönlich von dem neuen Seligen zu verabschieden. Wieder stehen Hunderttausende stundenlang geduldig in der Warteschlange, um an dem vor dem Apostelgrab im Petersdom aufgebahrten Holzsarg Johannes Pauls II. vorbei zu defilieren. Es ist, anders als 2005, ein heiterer Abschied. Denn der neue Selige, so sind sie jetzt sicher, wird sie eines Tages im Himmel begrüßen. Bis dahin aber können sie von ihm noch manches Wunder erwarten.